Würde unantastbar, immer und überall

25 Jahre Pogromgedenkgang in Mechernich – Rund 100 Teilnehmer erinnerten an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft – Damit die Vergangenheit uns nicht einholt, in der Gegenwart Haltung zeigen für die Zukunft

Die Glocken von St. Johannes Baptist fangen just in dem Moment an zu läuten, als Nailly Messan gerade dazu ansetzt, Auszüge einer modernen Litanei von Stephan Wahl vorzutragen. „Würde unantastbar“, spricht die Zehntklässlerin des Gymnasiums Am Turmhof ins Mikrofon – und das Geläut der Mechernicher Pfarrkirche scheint die Wichtigkeit und Bedeutung dieser beiden Worte unterstreichen zu wollen. Als das passiert, sind die rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Mechernicher Pogromgedenkgangs bereits an der dritten Station am Brunnenplatz angekommen.

Doch der Reihe nach: Losgegangen war der am Haus des Bäckermeister Andreas Girkens in der Bahnstraße. „Vor 25 Jahren, 1999, hat der Gedenkgang erstmalig stattgefunden und findet seitdem jedes Jahr statt“, betonte Franz-Josef Kremer zur Begrüßung. Initiator war damals der Pfarrgemeinderat Mechernich, dem Kremer angehörte. „Von Anfang an beteiligten sich auch die weiterführenden Schulen und die christlichen Kirchen an diesem Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft“, so der Organisator, der sich freute, auch Teilnehmer begrüßen zu können, die bereits vor 25 Jahren mit dabei waren.

Die Zivilcourage eines Bäckermeisters

Die und alle anderen hörten zunächst etwas über das Schicksal von Andreas Girkens. Der Bäckermeister war eng mit seinen jüdischen Nachbarn, den Familien von Dr. Robert David und seinem Sohn Dr. Ernst David, befreundet. „Er war ein Mann, der sich für seine Mitmenschen und das Geschehen um sich herum interessierte. Seine klare Haltung gegen den Nationalsozialismus führte dazu, dass Andreas Girkens als ‚Judenknecht’ beschimpft und seine Familie denunziert wurde“, las eine Schülerin der Gesamtschule Mechernich.

Girkens versorgte seine jüdischen Nachbarn und Freunde mit Essen, schleuste sie durch sein Haus zu den jüdischen Ärzten ins Nachbargebäude oder versteckte sie in seiner Bäckerei – ein Engagement, das er mit dem Leben bezahlen sollte. Er starb in der Außenstelle des KZ-Buchenwald in Köln-Deutz.

Zudem erinnerten die Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule an das Engagement der Mitglieder der „Weißen Rose“. In diesem Zusammenhang betonten sie die Bedeutung des ersten Artikels des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ein Leitmotiv, das sich wie ein roter Faden durch den weiteren Gedenkgang ziehen sollte. Bevor der Aufbrach zum Synagogen-Gedenkstein an der Rathergasse, gab ein Schüler den Teilnehmern noch mit auf den Weg: „Seid nicht taub, seid nicht blind, seid nicht dumm.“

Erinnerung an Familie Herz

Ein Appell, sich einzumischen, nicht wegzusehen, wenn Unrecht geschieht. Unrecht, wie es etwa der Mechernicher Familie Herz widerfahren ist. Im Oktober hatte der Arbeitskreis „Forschen – Gedenken – Handeln“ acht Stolpersteine für Bäckermeister Andreas Girkens sowie die jüdischen Familien David und Herz verlegt. Letztgenannte Familie sollte nun noch einmal besonders gewürdigt werden.

Franz-Josef Kremer hatte dazu Recherchen des Regionalhistorikers Hans-Dieter Arntz herausgesucht. So gab es 1939 noch 60 jüdische Mitbürger in Mechernich. „1941 waren es noch fünf – Martha und Ludwig Falk sowie Max, Erna und Hilde Herz“, berichtet der Organisator des Gedenkgangs. Alle wurden von den Nazis gezwungen, ins „Haus Riesa“ in Kalenberg zu ziehen – das Mechernicher „Judenhaus“ auf dem Gebiet der Gemeinde Kall. „Und am 21. März 1942 wurden sie schließlich in die Vernichtungslager im Osten deportiert und ermordet“, so Franz-Josef Kremer: „Hilde war damals erst zwölf Jahre alt.“

Ein überaus schwer zu ertragender Gedanke, der die Teilnehmer mitunter bis zur Station am Dietrich-Bonhoefer-Haus begleitet haben dürfte. Dort brachten vier Jugendliche der evangelischen Gemeinde und Pfarrerin Susanne Salentin den Anwesenden, die „Barmer theologische Erklärung“ von 1934 näher. Sie taten dies einerseits anhand einer Bronzeplastik der Bildhauerin Ulla Hees, die zum 50-jährigen Bestehen der Erklärung geschaffen wurde.

Holztäfelchen mit einem klaren Appell

Sie taten das andererseits, in dem sie eine vereinfachte Zusammenfassung der sechs Thesen vorlesen. Die Thesen sagen, worauf die Kirche zu hören hat, was Christinnen und Christen sich sagen lassen sollen, was über die Kirche zu sagen ist, wer in der Kirche das Sagen hat, was dem Statt zu sagen ist und was die Kirche zu sagen hat. „Unsere Zusammenfassung der Thesen lautet: Jesus Christus ist Maßstab allen Denkens und Handelns“, so die fünf Vortragenden, die zudem noch schreckliche Zitate von AfD-Politikern vorlasen, und dem entgegenstellten: „Die Würde eines jeden Menschen ist unverletzbar.“

Genau den Aspekt, den ja auch GAT-Schülerin Nailly Messan, ihre Mitschülerinnen und die stellvertretende Schulleiterin Rosemarie Antwerpen am Brunnenplatz herausgestellt hatten. „Schließlich wollen wir, verbunden mit vielen anderen in der ganzen Bundesrepublik, ein Zeichen setzen und unsere Haltung zeigen in unserer Gegenwart und für die Zukunft“, hatte Rosemarie Antwerpen vorgelesen: „Wir müssen zunehmend erkennen, dass uns die vermeintliche Vergangenheit einholen kann…“

Um den unbedingten Anspruch, dass alle Menschen gleich wertvoll sind, im wahrsten Wortsinn begreiflich zu machen, hatten sie Täfelchen des Bonner Diakons Ralf Knoblauch mitgebracht. „Eingebrannt auf einem kleinen Stück Holz findet sich ein Appell – quasi wie ein mobiler Stolperstein – zwar nicht personalisiert, aber doch auf jeden zutreffend: Die Würde ist unantastbar“, so die GAT-Lehrerin, deren Schülerin Nailly Messan schließlich die Litanei von Stephan Wahl vortrug, die da endet mit: „Ihr, die ihr es hören sollt, hört es endlich. Und ihr, die ihr es spüren sollt, spürt es endlich. Unantastbar soll sein die Würde des Menschen, immer und überall.“

Bericht: pp/Agentur ProfiPress

Fotos: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress